Bridge over Troubled Water
Martin Kaltwasser und Folke Köbberling 2014
Nichts hält länger als ein Provisorium
Martin Kaltwasser
Zum Brückenbauwerk von Folke Köbberling und Martin Kaltwasser über den Fluss Wieseck in Giessen.
Im Vorfeld der Landesgartenschau in Gießen wurden zahlreiche Pläne entwickelt – so auch der Rahmenplan für die innerstädtischen Areale an der Lahn. Mit den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln sollten größere Investitionen getätigt werden, die diesen sehr beliebten innerstädtischen Naherholungsbereich verbessern. So war ursprünglich vorgesehen, im Mündungsbereich des Flüsschens Wieseck in die Lahn, der westlich in der Nähe des Hauptbahnhofs liegt, eine querende Fußgänger- und Radfahrerbrücke zu errichten und dadurch eine bedeutende Lücke im Fuß- und Radwegnetz entlang der Lahn zu schließen. Der Bau einer Brücke an diesem Ort ist ein langgehegter Wunsch der Gießener/innen; doch leider kam es aus Kosten- und Naturschutzgründen schließlich doch nicht zum geplanten Bau. Alle, die an der Lahn entlanggingen oder -radelten, mussten weiterhin einen großräumigen und umständlichen Umweg auf sich nehmen.
Der Stadt Gießen fehlte also ganz grundlegend eine Brücke.
Folke Köbberling und Martin Kaltwasser griffen diesen vieldeutigen Umstand auf und wagten die Behauptung, dass es ihnen als Künstler/innen gelänge, mit vergleichsweise kleinen Mitteln die fehlende Brücke zu bauen. Für diese künstlerische und bauliche Setzung wurden verschiedene konkrete Möglichkeiten vorgeschlagen, einen Übergang mit dem gegebenen Budget des Kunstwettbewerbs an der vormals angedachten Stelle zumindest während der Dauer der Landesgartenschau zu errichten.
So entstanden drei Brückenbauideen:
Idee 1: Gießen sammelt, Gießen baut
Ausgehend von bereits erfolgreich durchgeführten Bauprojekten, bei denen Köbberling / Kaltwasser ähnlich vorgegangen waren, sollte die Bevölkerung dazu aufgerufen werden, Baumaterial zu sammeln, das dazu ausreicht, die Wieseck mit einer selbstgebauten, simplen, skulpturalen Brücke überqueren zu können. Es sollte die Möglichkeit gezeigt werden, den Übergang vor allem als kommunikatives Kunstprojekt zu begreifen und durch Aufrufe, soziale Netzwerke und Gespräche vor Ort freiwillige Mitarbeit und umfangreiche Materialspenden zu generieren.
Aus gebrauchtem oder der Entsorgung zugedachtem Konstruktionsvollholz, witterungsbeständigen Holzresten sowie allen Arten von langen, konstruktiv einsetzbaren Materialien würde in situ gebaut, beispielsweise im Vortriebsverfahren von beiden Uferseiten aufeinander zukommende Stege, die sich in ausreichender Höhe über der Flussmitte treffen und dann zu einer komplexen, gut designten Brücke verbunden würden.
Idee 2: Readymade
In dieser Variante sollten alle Kanäle und Ressourcen bemüht werden, um mit bereits in Gießen und Umgebung vorhandenen Bauteilen, Geräten, Bauelementen, konstruktiven Trägerelementen etc. eine direkte Querung der Wieseck zu erzielen. Dieses tragende Überbrückungselement würde mit einem Autokran spektakulär auf den beiden vorab am Nord- und Südufer der Wieseck platzierten Brückenfundamenten aufgelegt. An das überbrückende Tragwerk würden Fußweg, Geländer, Handlauf und Abstützungen montiert. Als solche Tragwerke kämen Seecontainer, Portaldrehkran-Kranarme, recycelte Brücken, vormontierte Brücken aus Gerüstbauteilen, große Traversen, Stahlfachwerkträger etc. infrage.
Idee 3: Standby-Brücke
Wenn aus baukonstruktiven und materialbedingten Gründen sowie unüberbrückbaren Hürden aufgrund von Hochwasser- und Umweltschutzbedenken der Brückenbau über die Wieseck nicht möglich wäre, würde eine Brücke im Maßstab 1:1 auf der Flussauenwiese direkt neben dem ursprünglichen Planungsort errichtet. Sie wäre dort als benutzbares, erprobbares Monument, Skulptur, Denkmal, Modell und Prototyp ganz real vorhanden und würde auf die noch zu erfolgende Überbrückung hinweisen. Sie wäre zunächst scheinbar ausgestellt, bevor ihr Einsatz erfolgte, wäre eine Brücke vor dem Start, ein Bauwerk, das ruht, bevor es in Bewegung kommt – um dann, wenn es schließlich platziert ist, selbst Bewegung zu ermöglichen. Die Lahnaue erhielte dadurch eine Großskulptur, die Fragen nach Maßstab, Planung, Utopien, Aufenthaltsqualität, Stadt als Möglichkeitsraum, als Raum für sich überlagernde Nutzungen und Bedeutungen aufwirft und beantwortet.
Umsetzung der Brückenbauidee
Am Ende war alles anders, aber erstaunlich einfach. Nach mehreren Vor-Ort-Treffen im Jahr 2013 mit den Verantwortlichen der eingebundenen städtischen Ämter (Tiefbauamt, Untere Wasserbehörde, Gartenamt, Umweltamt, Büro Landesgartenschau), die großes Engagement für dieses Kunstprojekt aufbrachten, wurden gemeinsam mit der Tragwerksplanerin Nicole Zahner aus Berlin mehrere Brückenentwürfe entwickelt. Parallel begann außerdem die Suche nach Brückenbaumaterial, wobei sich die Gießener Recyclingunternehmen als sehr hilfsbereit erwiesen.
Vorsorglich wurde in die Idee für Gießen auch der Berliner Gerüstbauunternehmer Uwe Tisch eingeweiht, dessen Firma schon mehrfach größere Kunstprojekte von Köbberling / Kaltwasser im öffentlichen Raum mit Gerüstkonstruktionen großzügig unterstützt hatte. Er reagierte prompt und schlug vor, den Steg mit einer Fertigteilkonstruktion zu bauen und damit die Wieseck schnell, leicht und TÜV-geprüft zu überbrücken. Nachdem alle alternativen Ideen akribisch theoretisch durchgespielt worden waren, erhielt Tischs Idee den Zuschlag.
Nach einem weiteren Vor-Ort-Termin im Frühjahr 2014 stimmten auch alle Gießener Ämter diesem Vorschlag zu. Die Begeisterung war groß, als die Firma Tisch Anfang April mitsamt einem kompletten Brückenbausatz aus Gerüstelementen, Fußbodenbelägen und Fundamentmaterial von Berlin nach Gießen fuhr. Innerhalb von drei Tagen wurde eine filigran-minimalistische Leichtbaubrücke über der Wieseck errichtet, dazu ein eleganter Holzplattenweg mit dunklen Siebdruckplatten über die Wiese am nördlichen Ufer verlegt, Stahlgeländer beidseitig des Weges installiert und das Bauwerk schließlich mit abgewinkelten Geländern am südlichen Brückenkopf von den Künstlern vollendet.
Kaum war der Übergang fertig, durchschnitt die Gießener Bürgermeisterin in einer kleinen Zeremonie das Band, und seitdem ist der Steg ein so selbstverständlicher Bestandteil der urbanen Wegeinfrastruktur geworden, dass er nur schwer wieder wegzudenken ist. Als die Künstler noch letzte Hand anlegten, wurden sie von den Passanten regelrecht bestürmt, sich für den dauerhaften Verbleib der Brücke an diesem Ort einzusetzen.
Die Brücke ist also ein Kunstwerk, dessen Konsensfähigkeit als fast schon beängstigend bezeichnet werden kann. Nutzwert und Akzeptanz sind so groß, dass sich die Frage auftut, was denn der künstlerische Mehrwert sei. Und ob Kunst nicht erst dann zur Kunst wird, wenn sie auch kritisch, unbequem, störend, hässlich ist. Die Brücke hinterfragt also wie selbstverständlich sämtliche Kunstbegriffe, indem sie sich der definitorischen Zuschreibung fast völlig entzieht, eher nebenbei Kunst ist, aber vorrangig als technisches Infrastrukturbauwerk wahrgenommen und genutzt wird.
Aber diese Brücke über die Wieseck ist Kunst. Sie wurde von Künstler/innen ersonnen, sie ist als Bauwerk und Skulptur extrem präsent und neben der funktionalen Nutzbarkeit eine deutliche künstlerische Setzung im öffentlichen Raum, die auch aus rein künstlerischer Perspektive wahrgenommen werden kann. Sie steht unweit einer bereits vorhandenen Brücke aus Beton, die für den örtlichen Auto-Durchgangsverkehr gebaut wurde und über die die Fußgänger/innen und Radler/innen bislang nur sehr umständlich den kleinen Fluss überqueren mussten. So kommentiert die nun daneben existierende, temporäre Leichtbaubrücke dieses andere Bauwerk, steht in einem nonverbalen und vielschichtigen Dialog mit ihm und der Umgebung. Sie bietet sich als Möglichkeit an, Stadt anders zu denken und bestehende räumliche Situationen nicht nur zu hinterfragen, sondern umzudeuten und dies sogar zu materialisieren.
Von Anfang an war die künstlerische Intervention dieses Brückenbaus temporär angelegt. Nach dem Ende der Landesgartenschau soll die Bridge Over Troubled Water wieder ordnungsgemäß abgebaut und nach Berlin zurückgebracht werden.
Das Künstlerpaar Köbberling / Kaltwasser erhebt im öffentlichen Raum das Temporäre zur Kunstform und zu mehr als bloßer Behauptung. Damit sind sie im Feld der aktuellen Kunst nicht allein. Denn im Temporären und Vorläufigen schlummern unendliche Potentiale. Temporäre Bauten sind zunächst einmal das Gegenteil des Bauens für 1000 Jahre. Sie kommen, verschwinden und existieren mehr als Idee denn als Materie. Die kurze Standzeit erhebt einen ansonsten unbebauten Ort in einen anderen Aggregatzustand, den sich Menschen anschauen, erleben können. Mit dem Verschwinden bleibt aber die Idee. Und oftmals ist die Idee stärker als das, was materiell vorhanden ist. Die Idee lebt also als Phantasie in den Köpfen der Menschen weiter – mit offenem Ausgang.
Einmal Fertiggestelltes und für ewige Zeiten Gebautes lässt die Phantasie verkümmern und macht träge. Deshalb sind Bauten, die politische und ökonomische Macht verkörpern sollen, oftmals für eine lange Lebensdauer errichtet. Sie sollen Unumstößliches verkörpern, eherne Gesetze, und vor allem sollen sie einschüchtern.
Das temporäre Bauen geschieht oft dort, wo eigentlich nichts gebaut werden darf. Im Kunstkontext kann dann das dennoch, weil temporär Gebaute eine Idee für einen Ort kreieren, die viel radikaler, spielerischer oder verrückter ist als alles, was im normalen Status der Stadtplanung und Architekturpraxis entstehen darf. Dort finden viel mehr bestehende Machtverhältnisse Eingang und ihren Ausdruck. Politisch-gesellschaftliche Abwägungsprozesse bringen oftmals konsensuale, mediokre Architekturen hervor. Daran haben wir uns gewöhnt.
Deshalb ist es ein anderer Umgang mit öffentlichem Raum, wenn dort Interventionen stattfinden, temporäre Bauten entstehen oder Ereignisse, zumal solche mit u.U. politischem Inhalt (wie z.B. Zelt- und Hüttendörfer). Es können dann zugespitzte Statements zu Stadtplanung, spezifischen Orten und stadträumlichen Situationen konkret vor Ort gebaut werden. Sie können radikal, ironisch und verstörend sein und somit eine enorme Kraft entfalten, die Stadt und ihre Bewohnerinnen begeistern oder bereichern. Dies wissen die Stadtverantwortlichen, und solange solche Eingriffe in die Stadt nur vorübergehend sind, werden sie ab und an erlaubt. Wären zuspitzende Eingriffe an der Tagesordnung, würde – so befürchtet die Stadtregierung – Chaos ausbrechen. Aber im Temporären ist es erlaubt und realisierbar, ermöglicht durch den Kunstkontext. Kunst im öffentlichen Raum vermag also, Potentiale aufzuzeigen und zu entfalten, die wiederum dann eine Stadtregierung auch als Anregung aufgreifen kann.
Dieses Potential hat die temporäre Bridge Over Troubled Water in Gießen. Sie ist auf einmal da, wird benutzt und ist nach Ende der Gartenschau wieder weg. Und viele Leute werden sie vielleicht vermissen. Allein die temporäre Präsenz dieses Bauwerks erzielt Wirkungen, die dazu animieren können, ganz allgemein über Brückenbau (im direkten und metaphorischen Sinne) und konkret dort an der Wieseck nachzudenken.
Oder was bei so vielen temporären Interventionen im öffentlichen Raum zum Tragen kommt: The day after. Wenn also die Installation abgebaut und der Platz wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt worden ist, dann werden die Menschen Dasjenige vermissen, das dort eine vorübergehende Präsenz zeigte. Und dann werden sie vielleicht ihrerseits aktiv werden und die künstlerische Idee zu einer längerfristigen Umsetzung transformieren.
Wir Künstler freuen uns, dass die Brücke sich einem festgeschriebenen Kunstbegriff entzieht, ihn stattdessen konkret öffnet. So weit, dass es erste Anzeichen für die Bildung einer Bürgerinitiative gibt, die sich für den dauerhaften Erhalt dieses Kunstwerks einsetzen will. Und auch die Stadt Gießen überlegt nun ernsthaft, ob sie eine längere Standzeit dieser Brücke erlauben und finanzieren will.
Martin Kaltwasser
Zum Brückenbauwerk von Folke Köbberling und Martin Kaltwasser über den Fluss Wieseck in Giessen.
Im Vorfeld der Landesgartenschau in Gießen wurden zahlreiche Pläne entwickelt – so auch der Rahmenplan für die innerstädtischen Areale an der Lahn. Mit den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln sollten größere Investitionen getätigt werden, die diesen sehr beliebten innerstädtischen Naherholungsbereich verbessern. So war ursprünglich vorgesehen, im Mündungsbereich des Flüsschens Wieseck in die Lahn, der westlich in der Nähe des Hauptbahnhofs liegt, eine querende Fußgänger- und Radfahrerbrücke zu errichten und dadurch eine bedeutende Lücke im Fuß- und Radwegnetz entlang der Lahn zu schließen. Der Bau einer Brücke an diesem Ort ist ein langgehegter Wunsch der Gießener/innen; doch leider kam es aus Kosten- und Naturschutzgründen schließlich doch nicht zum geplanten Bau. Alle, die an der Lahn entlanggingen oder -radelten, mussten weiterhin einen großräumigen und umständlichen Umweg auf sich nehmen.
Der Stadt Gießen fehlte also ganz grundlegend eine Brücke.
Folke Köbberling und Martin Kaltwasser griffen diesen vieldeutigen Umstand auf und wagten die Behauptung, dass es ihnen als Künstler/innen gelänge, mit vergleichsweise kleinen Mitteln die fehlende Brücke zu bauen. Für diese künstlerische und bauliche Setzung wurden verschiedene konkrete Möglichkeiten vorgeschlagen, einen Übergang mit dem gegebenen Budget des Kunstwettbewerbs an der vormals angedachten Stelle zumindest während der Dauer der Landesgartenschau zu errichten.
So entstanden drei Brückenbauideen:
Idee 1: Gießen sammelt, Gießen baut
Ausgehend von bereits erfolgreich durchgeführten Bauprojekten, bei denen Köbberling / Kaltwasser ähnlich vorgegangen waren, sollte die Bevölkerung dazu aufgerufen werden, Baumaterial zu sammeln, das dazu ausreicht, die Wieseck mit einer selbstgebauten, simplen, skulpturalen Brücke überqueren zu können. Es sollte die Möglichkeit gezeigt werden, den Übergang vor allem als kommunikatives Kunstprojekt zu begreifen und durch Aufrufe, soziale Netzwerke und Gespräche vor Ort freiwillige Mitarbeit und umfangreiche Materialspenden zu generieren.
Aus gebrauchtem oder der Entsorgung zugedachtem Konstruktionsvollholz, witterungsbeständigen Holzresten sowie allen Arten von langen, konstruktiv einsetzbaren Materialien würde in situ gebaut, beispielsweise im Vortriebsverfahren von beiden Uferseiten aufeinander zukommende Stege, die sich in ausreichender Höhe über der Flussmitte treffen und dann zu einer komplexen, gut designten Brücke verbunden würden.
Idee 2: Readymade
In dieser Variante sollten alle Kanäle und Ressourcen bemüht werden, um mit bereits in Gießen und Umgebung vorhandenen Bauteilen, Geräten, Bauelementen, konstruktiven Trägerelementen etc. eine direkte Querung der Wieseck zu erzielen. Dieses tragende Überbrückungselement würde mit einem Autokran spektakulär auf den beiden vorab am Nord- und Südufer der Wieseck platzierten Brückenfundamenten aufgelegt. An das überbrückende Tragwerk würden Fußweg, Geländer, Handlauf und Abstützungen montiert. Als solche Tragwerke kämen Seecontainer, Portaldrehkran-Kranarme, recycelte Brücken, vormontierte Brücken aus Gerüstbauteilen, große Traversen, Stahlfachwerkträger etc. infrage.
Idee 3: Standby-Brücke
Wenn aus baukonstruktiven und materialbedingten Gründen sowie unüberbrückbaren Hürden aufgrund von Hochwasser- und Umweltschutzbedenken der Brückenbau über die Wieseck nicht möglich wäre, würde eine Brücke im Maßstab 1:1 auf der Flussauenwiese direkt neben dem ursprünglichen Planungsort errichtet. Sie wäre dort als benutzbares, erprobbares Monument, Skulptur, Denkmal, Modell und Prototyp ganz real vorhanden und würde auf die noch zu erfolgende Überbrückung hinweisen. Sie wäre zunächst scheinbar ausgestellt, bevor ihr Einsatz erfolgte, wäre eine Brücke vor dem Start, ein Bauwerk, das ruht, bevor es in Bewegung kommt – um dann, wenn es schließlich platziert ist, selbst Bewegung zu ermöglichen. Die Lahnaue erhielte dadurch eine Großskulptur, die Fragen nach Maßstab, Planung, Utopien, Aufenthaltsqualität, Stadt als Möglichkeitsraum, als Raum für sich überlagernde Nutzungen und Bedeutungen aufwirft und beantwortet.
Umsetzung der Brückenbauidee
Am Ende war alles anders, aber erstaunlich einfach. Nach mehreren Vor-Ort-Treffen im Jahr 2013 mit den Verantwortlichen der eingebundenen städtischen Ämter (Tiefbauamt, Untere Wasserbehörde, Gartenamt, Umweltamt, Büro Landesgartenschau), die großes Engagement für dieses Kunstprojekt aufbrachten, wurden gemeinsam mit der Tragwerksplanerin Nicole Zahner aus Berlin mehrere Brückenentwürfe entwickelt. Parallel begann außerdem die Suche nach Brückenbaumaterial, wobei sich die Gießener Recyclingunternehmen als sehr hilfsbereit erwiesen.
Vorsorglich wurde in die Idee für Gießen auch der Berliner Gerüstbauunternehmer Uwe Tisch eingeweiht, dessen Firma schon mehrfach größere Kunstprojekte von Köbberling / Kaltwasser im öffentlichen Raum mit Gerüstkonstruktionen großzügig unterstützt hatte. Er reagierte prompt und schlug vor, den Steg mit einer Fertigteilkonstruktion zu bauen und damit die Wieseck schnell, leicht und TÜV-geprüft zu überbrücken. Nachdem alle alternativen Ideen akribisch theoretisch durchgespielt worden waren, erhielt Tischs Idee den Zuschlag.
Nach einem weiteren Vor-Ort-Termin im Frühjahr 2014 stimmten auch alle Gießener Ämter diesem Vorschlag zu. Die Begeisterung war groß, als die Firma Tisch Anfang April mitsamt einem kompletten Brückenbausatz aus Gerüstelementen, Fußbodenbelägen und Fundamentmaterial von Berlin nach Gießen fuhr. Innerhalb von drei Tagen wurde eine filigran-minimalistische Leichtbaubrücke über der Wieseck errichtet, dazu ein eleganter Holzplattenweg mit dunklen Siebdruckplatten über die Wiese am nördlichen Ufer verlegt, Stahlgeländer beidseitig des Weges installiert und das Bauwerk schließlich mit abgewinkelten Geländern am südlichen Brückenkopf von den Künstlern vollendet.
Kaum war der Übergang fertig, durchschnitt die Gießener Bürgermeisterin in einer kleinen Zeremonie das Band, und seitdem ist der Steg ein so selbstverständlicher Bestandteil der urbanen Wegeinfrastruktur geworden, dass er nur schwer wieder wegzudenken ist. Als die Künstler noch letzte Hand anlegten, wurden sie von den Passanten regelrecht bestürmt, sich für den dauerhaften Verbleib der Brücke an diesem Ort einzusetzen.
Die Brücke ist also ein Kunstwerk, dessen Konsensfähigkeit als fast schon beängstigend bezeichnet werden kann. Nutzwert und Akzeptanz sind so groß, dass sich die Frage auftut, was denn der künstlerische Mehrwert sei. Und ob Kunst nicht erst dann zur Kunst wird, wenn sie auch kritisch, unbequem, störend, hässlich ist. Die Brücke hinterfragt also wie selbstverständlich sämtliche Kunstbegriffe, indem sie sich der definitorischen Zuschreibung fast völlig entzieht, eher nebenbei Kunst ist, aber vorrangig als technisches Infrastrukturbauwerk wahrgenommen und genutzt wird.
Aber diese Brücke über die Wieseck ist Kunst. Sie wurde von Künstler/innen ersonnen, sie ist als Bauwerk und Skulptur extrem präsent und neben der funktionalen Nutzbarkeit eine deutliche künstlerische Setzung im öffentlichen Raum, die auch aus rein künstlerischer Perspektive wahrgenommen werden kann. Sie steht unweit einer bereits vorhandenen Brücke aus Beton, die für den örtlichen Auto-Durchgangsverkehr gebaut wurde und über die die Fußgänger/innen und Radler/innen bislang nur sehr umständlich den kleinen Fluss überqueren mussten. So kommentiert die nun daneben existierende, temporäre Leichtbaubrücke dieses andere Bauwerk, steht in einem nonverbalen und vielschichtigen Dialog mit ihm und der Umgebung. Sie bietet sich als Möglichkeit an, Stadt anders zu denken und bestehende räumliche Situationen nicht nur zu hinterfragen, sondern umzudeuten und dies sogar zu materialisieren.
Von Anfang an war die künstlerische Intervention dieses Brückenbaus temporär angelegt. Nach dem Ende der Landesgartenschau soll die Bridge Over Troubled Water wieder ordnungsgemäß abgebaut und nach Berlin zurückgebracht werden.
Das Künstlerpaar Köbberling / Kaltwasser erhebt im öffentlichen Raum das Temporäre zur Kunstform und zu mehr als bloßer Behauptung. Damit sind sie im Feld der aktuellen Kunst nicht allein. Denn im Temporären und Vorläufigen schlummern unendliche Potentiale. Temporäre Bauten sind zunächst einmal das Gegenteil des Bauens für 1000 Jahre. Sie kommen, verschwinden und existieren mehr als Idee denn als Materie. Die kurze Standzeit erhebt einen ansonsten unbebauten Ort in einen anderen Aggregatzustand, den sich Menschen anschauen, erleben können. Mit dem Verschwinden bleibt aber die Idee. Und oftmals ist die Idee stärker als das, was materiell vorhanden ist. Die Idee lebt also als Phantasie in den Köpfen der Menschen weiter – mit offenem Ausgang.
Einmal Fertiggestelltes und für ewige Zeiten Gebautes lässt die Phantasie verkümmern und macht träge. Deshalb sind Bauten, die politische und ökonomische Macht verkörpern sollen, oftmals für eine lange Lebensdauer errichtet. Sie sollen Unumstößliches verkörpern, eherne Gesetze, und vor allem sollen sie einschüchtern.
Das temporäre Bauen geschieht oft dort, wo eigentlich nichts gebaut werden darf. Im Kunstkontext kann dann das dennoch, weil temporär Gebaute eine Idee für einen Ort kreieren, die viel radikaler, spielerischer oder verrückter ist als alles, was im normalen Status der Stadtplanung und Architekturpraxis entstehen darf. Dort finden viel mehr bestehende Machtverhältnisse Eingang und ihren Ausdruck. Politisch-gesellschaftliche Abwägungsprozesse bringen oftmals konsensuale, mediokre Architekturen hervor. Daran haben wir uns gewöhnt.
Deshalb ist es ein anderer Umgang mit öffentlichem Raum, wenn dort Interventionen stattfinden, temporäre Bauten entstehen oder Ereignisse, zumal solche mit u.U. politischem Inhalt (wie z.B. Zelt- und Hüttendörfer). Es können dann zugespitzte Statements zu Stadtplanung, spezifischen Orten und stadträumlichen Situationen konkret vor Ort gebaut werden. Sie können radikal, ironisch und verstörend sein und somit eine enorme Kraft entfalten, die Stadt und ihre Bewohnerinnen begeistern oder bereichern. Dies wissen die Stadtverantwortlichen, und solange solche Eingriffe in die Stadt nur vorübergehend sind, werden sie ab und an erlaubt. Wären zuspitzende Eingriffe an der Tagesordnung, würde – so befürchtet die Stadtregierung – Chaos ausbrechen. Aber im Temporären ist es erlaubt und realisierbar, ermöglicht durch den Kunstkontext. Kunst im öffentlichen Raum vermag also, Potentiale aufzuzeigen und zu entfalten, die wiederum dann eine Stadtregierung auch als Anregung aufgreifen kann.
Dieses Potential hat die temporäre Bridge Over Troubled Water in Gießen. Sie ist auf einmal da, wird benutzt und ist nach Ende der Gartenschau wieder weg. Und viele Leute werden sie vielleicht vermissen. Allein die temporäre Präsenz dieses Bauwerks erzielt Wirkungen, die dazu animieren können, ganz allgemein über Brückenbau (im direkten und metaphorischen Sinne) und konkret dort an der Wieseck nachzudenken.
Oder was bei so vielen temporären Interventionen im öffentlichen Raum zum Tragen kommt: The day after. Wenn also die Installation abgebaut und der Platz wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt worden ist, dann werden die Menschen Dasjenige vermissen, das dort eine vorübergehende Präsenz zeigte. Und dann werden sie vielleicht ihrerseits aktiv werden und die künstlerische Idee zu einer längerfristigen Umsetzung transformieren.
Wir Künstler freuen uns, dass die Brücke sich einem festgeschriebenen Kunstbegriff entzieht, ihn stattdessen konkret öffnet. So weit, dass es erste Anzeichen für die Bildung einer Bürgerinitiative gibt, die sich für den dauerhaften Erhalt dieses Kunstwerks einsetzen will. Und auch die Stadt Gießen überlegt nun ernsthaft, ob sie eine längere Standzeit dieser Brücke erlauben und finanzieren will.